Was ist Horrorliteratur?

Horror ist kein Genre. Horror ist ein Gefühl. Horror findet nicht nur bei Poe, Lovecraft oder King statt, sondern auch in Goethes Faust, in Grass‘ Blechtrommel, und natürlich in jedem einzelnen der Grimmschen Märchen oder Hoffmannschen Geschichten aus dem Struwwelpeter.

Horror steht oft im Verbund mit übernatürlichen Kräften, mit einem undefinierbaren Etwas, das uns fremd ist. Das ist die Quintessenz des Horrors. Doch dieses Fremde können auch wir selbst sein. Das Gesicht, in das wir blicken, wenn wir vor dem Spiegel stehen: Ist es das eines geordneten, vernünftigen Menschen oder das eines Werwolfs, der in seinen dunkelsten Gedanken ein ganz anderer sein möchte?

Horror ist das Gefühl des Ausbruchs aus einer vorgegebenen Ordnung, die für den Großteil der Gesellschaft als akzeptierte Norm gilt. Dieser Ausbruch kann von außen, von einer fremden, manchmal extraterrestrischen Kraft, aber eben auch durch eigene, innere Impulse vonstattengehen. Der Ausbruch aus der Norm markiert den Menschen als Abnormität – als Monster. Stephen King hat deshalb recht, wenn er sagt, dass das, was wir als Horrorliteratur bezeichnen, im Grunde zutiefst reaktionär ist. Horror zeigt auf, welche Dinge passieren können, wenn man zum Monster wird. Der Anspruch guten Horrors ist, aus dem Ausbruch des Helden in die Abnormität eine für das gesellschaftliche Miteinander bedeutsame Botschaft zu erzeugen. Dies geschieht im besten Fall nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern indem die Dinge so beschrieben werden, wie sie sich in der Geschichte eben zutragen: eine mal theoretischere (sog. „ernste Literatur“), mal gefühlsbetontere (sog. „Unterhaltungsliteratur“), mal grafischere (sog. „Pulp Fiction“) Beschreibung eines Übergangs aus den geordneten Bahnen des Lebens in einen neuen Bewusstseinszustand. Indem wir als Leser die Geschichte des Horrorhelden miterleben, reflektieren wir unsere eigenen Ausbruchsphantasien (und ich garantiere: die hat jeder und jede von uns!), wägen diese ab und bewahren sie schließlich (zum Glück?) unter unserer Schädeldecke.

Guter Horror muss jedoch nicht immer reaktionär sein. Im Gegenteil: Die Horrorgeschichten, die am deutlichsten nachwirken, sind jene, die eine oft als Zwang empfundene Norm als konkreten Auslöser des Horrors aufzeigen. Besonders die Satire ist für diese Art des Horrors federführend. Als Referenzen können hier Bret Easton Ellis, John Niven oder Matias Faldbakken gelten. Für mich ist Horror immer auch Kritik an bestehenden Gesellschaftskonstruktionen, die das Andere, die Anderen immer noch und immer wieder ausschließen.

Ob uns eine Horrorgeschichte ein Gespür und vielleicht sogar einen Nutzen für unser gemeinschaftliches Leben mitgibt oder nur schockieren, ekeln oder eine geheime Genugtuung verschaffen soll, bleibt zuletzt den eigenen Ansprüchen der Lesenden überlassen. Eines jedoch steht für mich fest: Eine Welt ohne Horrorliteratur wäre mit Sicherheit eine noch viel schrecklichere.


Quellen:

Stephen King: Vorwort“, in ders.: Nachtschicht (orig. Night Shift), Bastei-Lübbe, Köln 1988. S. 7–18.
Stephen King: Danse Macabre, Hodder, London 2006.
H. P. Lovecraft: Die Literatur der Angst. Zur Geschichte der Phantastik (orig. Supernatural Horror in Literature), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995.
Douglas E. Winter: „Introduction“, in ders.: Prime Evil, New American Library, New York 1988. S. 11–21.